Naturheilpraxis - Ausgabe 06/2002
Die Sonne im Menschen
Das Herz in der traditionellen abendländischen Medizin

von Olaf Rippe

„Man sieht nur mit dem Herzen gut,
das Wesentliche bleibt dem Auge verborgen.“
Antoine de Saint-Exupéry


Das Herz – Maschine oder Heimat der Seele?
Einige Jahre, nachdem der englische Arzt William Harvey 1616 den Blutkreislauf entdeckte, meinte René Descartes, dass das Herz der Mechanik einer Uhr oder eines Springbrunnens gleichen würde. 1929, knapp 300 Jahre später, legte man den ersten Herzkatheter, 1958 setzte man den ersten Herzschrittmacher ein und 1967 folgte die erste Herztransplantation.

Doch was war das Herz, bevor die Wissenschaftler der Renaissance ihr mechanistisches Weltbild formulierten und damit die Triumphe der Chirurgie einläuteten?

Jahrtausende lang glaubte der Mensch an einen beseelten Leib, dessen geistiges Zentrum das Herz war. Im Totenkult unserer Vorfahren bestattete man das Herz häufig auf besondere Weise in eigenen Gefäßen, da man es als Träger magischer Seelenkräfte verstand und an dessen Unsterblichkeit glaubte.

„Die Ägypter waren davon überzeugt, dass im Herzen des Menschen sein Gewissen wohnt. Deshalb wird beim Totengericht der Verstorbene vor die Seelenwaage geführt. Hier wird sein Herz von Anubis und Horus gegen das Symbol der Wahrheit – das ist die hockende Göttin Maat mit Federkrone – gewogen. Der Schreibergott Thot vermerkt das Ergebnis auf einer Rolle, vor ihm sitzt der Totenfresser, ein Mischwesen, der das Herz frisst, falls es als zu leicht befunden wird“ (M. Reich-Ranicki).(Abb. 2 - siehe Naturheilpraxis 06/2002)

Noch Hildegard von Bingen sprach vom Herzen als Heimat der Seele („domus animae“). Sie glaubte, dass vom Herzen unsere Gedanken ausgehen, die im Gehirn auf seltsame Weise umgeformt werden. Ähnliches vermutete Paracelsus: „Wisset nun ferner vom Sitz und der Stätte der Seele, dass sie im Herzen sitzt, mitten im Menschen.“

Hätte man niemals an dieser Weltsicht gezweifelt, es wäre sicher zu keiner Herztransplantation gekommen. Nur weil man es wagte, das Tabu der Totenruhe zu brechen und weil man die Seele aus dem Körper verbannte, konnte ein Leonardo da Vinci seine anatomischen Studien durchführen und nur solche Studien machten die Entdeckungen Harveys möglich.

Doch etwas sollte einen vielleicht nachdenklich stimmen: Heute stirbt in den Industrieländern jeder Zweite an Herz-Kreislaufkrankheiten, dies ist aber erst seit einigen Generationen der Fall und unter „Naturvölkern“ ziemlich selten. Ist es nicht verwunderlich, dass, je mehr man dem Herzen die Seele raubte, es umso häufiger erkrankte? In einer entzauberten und technokratisierten Welt, in der das Herz ein austauschbares, seelenloses Ding ist, kann es nur zu Stein erstarren. Doch „die Seele ist ein Feuerauge, oder ein Feuerspiegel, darin sich die Gottheit hat geoffenbaret (...). Sie ist ein hungrig Feuer und muss Wesenheit haben, sonst wird sie ein hungrig finster Tal“ (J. Böhme, zit. n. A. Roob).

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