Naturheilpraxis - Ausgabe 08/2001
Die antike Tradition der Spagyrik
von Bernd Hertling

An den Anfang dieser Abhandlung möchte ich die These stellen, die Kunst der Spagyrik sei angewandte Philosophie. Im Folgenden versuche ich, dies zu verdeutlichen.
Die Kunst der Spagyrik hat ihren Höhepunkt mit Sicherheit nicht in der Antike, sofern sie zu dieser Zeit überhaupt ausgeübt wurde. Sie ist eigentlich Kind der Renaissance, der frühen Neuzeit, welche sich als „Wiedergeburt der Antike“ verstand. Im Endeffekt sollte man diese Epoche der europäischen Geistesgeschichte jedoch besser mit Jacob Burckhardt, einem Spezialisten auf diesem Gebiet, als „Wiederentdeckung der Antike“ bezeichnen. Auffallend erscheint mir, dass gerade im Bereich der Medizintheorie eine gewisse Aufrechterhaltung der antiken Traditionen, auch während des Mittelalters, zu verzeichnen war, die „Wiedergeburt“ eher in Form einer Rückbesinnung zu verstehen ist. Vieles war in der Zeit des wissenschaftlichen Verfalls, in den Jahrhunderten seit dem Zerfall des Römischen Reiches in Vergessenheit geraten oder war durch x-maliges Kopieren und Exzerpieren verfälscht worden. So wundert es nicht wenig, wenn Paracelsus gegen die Kollegen seiner Zeit wettert, die von der eigentlichen Kunst nichts verstünden. Oftmals orientierten sie sich, wie die neutestamentlichen Pharisäer buchstabengetreu am überkommenen Wissen, ohne dessen eigentliche Essenz zu begreifen. Sie kannten „ihren Galen“ ihr „Circa instans“, eventuell noch die Bücher von Dioskurides und Celsius, verstanden aber oft nicht mehr, um was es diesen Gelehrten längst versunkener Zeiten und Kulturen ging.

Paracelsus war es, der erkannte, dass es in der Antike durch die Bank üblich war, wertend zu denken, dass nicht nur die Adepten sogenannter esoterischer Initiationskulte, wie die Mithrasjünger oder Pythagoräer das Sein als einen Komplex stufenweise übereinandergeschichteter Wesensheiten interpretierten, sondern die wertenden Tendenzen Allgemeingültigkeit besaßen.

Was sich Hoch-Oben befand, das Ätherische, galt als edel und was sich Tief-Unten aufhielt, das Wasser also, als unedel. Diese Vorstellung lebt ja wie ein Archetyp bis heute fort. Gloria in exceslis Deo! (Ehre sei Gott in der Höhe) heißt es, und der Teufel brütet in der Hitze des unterweltlichen Inferno (das Untere) seine Bosheiten aus. Wobei sich das Christentum, angeregt von orientalischen Diesseitserfahrungen, die Hölle trocken-heiß ausmalt und hier vom griechischen Vorbild abweicht. Die traditionelle griechische Jenseitsvorstellung ist ohnehin wenig erfreulich: Die Unterwelt wird zwar nicht als „schlecht“ oder gar „böse“ bezeichnet, ist aber ein lieb-, freud- und lebloser Ort. Der vormalige Heros Achilleus macht kein Hehl aus dieser Sache, als er dem in die Unterwelt eindringenden Odysseus mitteilt, er würde ein Leben auf der Erde als kleiner Sklave seinem Vegetieren als Fürst unter den Schatten vorziehen.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass „Gut“ immer etwas mit Hoch-Oben und „Schlecht“ mit Tief-Unten zu tun hatte.

Dazwischen lagen die Elemente Erde – Luft – Feuer, in aufsteigender Reihe. Dies schlug sich beispielsweise auch in der Charakterologie nieder, wo der Phlegmatiker, in seiner Eigenschaft feucht und kalt, als unedelster Typus. Das Element das dem Phlegmatiker entspricht ist klarerweise das Wasser, jenes schwerste der Vier, das sich immer den tiefsten Punkt sucht und deshalb nicht nur die bewohnbare Erde umgürtet, sondern sie auch trägt. Die Teilhabe am Wasser galt übrigens nicht nur charakterologisch als ungünstig. Das Ärgste, was einem Hellenen widerfahren konnte, war der Tod im Wasser, zum Beispiel bei einem der damals häufigen Schiffsunglücke zu ertrinken. Wer ertrank, dessen Seele löste sich quasi im Wasser auf und konnte keine Ruhe in der Unterwelt finden. Opfer für sie, die normalerweise auf dem Grab des kremierten Toten gebracht wurden, erreichten sie nicht und der Geist ‘ging’ als Unruhegeist ‘um’. Am anderen Ende der Leiter steht der Sanguiniker als warm und feucht und wird als die edelste Charakterausprägung bezeichnet. Wenn man hier eine Inkonsequenz wittert, hat das seine klare Berechtigung. Feuer wäre schließlich heiß und trocken und demzufolge edler als warm und feucht.

Das ist richtig, doch gilt für alles Lebendige, dass eine Teilhabe am Feuchten der am Trockenen vorzuziehen ist, da alles Leben aus dem Feuchten stammt, aller Tod in der Trockenheit besteht, die edelste Seinsform aber, die ätherische, über dem Leben schwebt. Sie kommt damit der Ewig-gleich-gültigen Seinsebene des Göttlichen nahe, die jedoch mit so ephemeren Erscheinungen wie Leben nichts mehr gemein hat. Indem die Götter manchmal in menschlicher oder gar in Tiergestalt den Sterblichen erscheinen, liegt es nahe, sie als lebendig anzusehen, eine Vorstellung, die sich auch in der Volksreligion widerspiegelte. Aristophanes, der große Komödiendichter Athens, machte sich ausgiebig über diese naive Vorstellung lustig, indem er die Götter alt und grau werden lässt, als die Vögel im gleichnamigen Drama ihnen die Opferdüfte abfangen und für sich behalten. Prompt wurde er mit einem Asebieprozess (A. = Gottlosigkeit) überzogen! Die Philosophen wiederum brachten die Götter mit „Sein“ nicht mit „Leben“ in Verbindung, wie ja auch die Begriffspaarung „Ewiges Leben“ eine theoretische Aporie bereitet...

Wie wir noch sehen werden, war dies wohl auch einer jener Punkte, wo die christlichen Kirchen Aristoteles, dem sie so gerne in jede entlegene Gegend des Seins folgten, nicht mehr die Treue halten mochten und sich auf Platon zurückbesannen, der ein individuelles Weiterleben der Seelen postulierte, während Aristoteles nichts wissen wollte von einer individuellen Präexistenz oder gar einem „Ewigen postmortalen Leben“.

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