Naturheilpraxis - Ausgabe 08/2002
Historische Kasuistiken: Schädel-Hirn-Trauma
von Gerd Aronowski

Unter der Überschrift "Historische Kasuistiken" möchte die Redaktion der Blätter für Klassische Homöopathie mit der Zeit eine Reihe von Heilungsfällen der Homöopathiegeschichte veröffentlichen und kommentieren.

Wie wir von Hahnemann wissen ist Heilen "des Arztes einzigster Beruf" mit dem Ziel den Kranken von seinem persönlichen Krankheitsschicksal zu befreien. In den Archiven homöopathischer Literatur finden sich unzählige Fälle, in denen die unterschiedlichsten Krankheiten durch die Homöopathie geheilt werden konnten. Viele Fälle bieten dabei nicht wirklich etwas Spektakuläres oder Lehrreiches. Ja – sie unterscheiden sich im Wesentlichen nicht von den Fällen einer heutigen Alltagspraxis. Wie könnten sie auch! Sie sind Zeugnisse des uns vertrauten oft mühevollen Arbeitsprozesses und lassen erst allmählich, nach längerem Genesungsprozess die Heilung sichtbar werden. Jeder kennt von uns das befriedigende Gefühl welches diese Arbeit bei entsprechendem Resultat hinterlassen kann. Und eben dieser erfreuliche Umstand, dass Heilung in solch schwierigen Fällen eintrat, berechtigte dazu, dass diese Kasuistiken festgehalten wurden.

Zuweilen treffen wir in der alten Literatur aber auch auf Heilungsberichte, die ich als "Glanzkuren" bezeichnen möchte und welche die Genialität unserer Heilmethode auf die eine oder andere Weise besonders demonstrieren können. Von diesen Fällen soll in dieser Reihe die Rede sein. Die Genialität von Homöopath und Homöopathie kann hierbei auf unterschiedliche Art und Weise in Erscheinung treten. Alle Fälle verströmen jedoch ein wenig von dem Glanz den wir uns bei unserer Arbeit immer wieder wünschen.

Das Aufstöbern historischer Kasuistiken ist unweigerlich mit manch durstreicher Lesestrecke verbunden und so manche Schreibtischglühlampe wird bei diesem abendlichen "Lesevergnügen" ihren Dienst quittieren. Nebenbei gesagt – das Durchblättern alter Bücher ist für Kollegen unter uns mit Hausstauballergie nicht gerade geeignet! Wer aber all diese Widrigkeiten in Kauf nimmt, wird durch homöopathische Goldkörner belohnt. Um eine solche Arbeit zu tun, bedarf es natürlich eines Archives. Entsprechende Literatur finden wir in homöopathischen Antiquariaten, an homöopathischen Instituten und in Landesbibliotheken, aber auch in privaten Archiven. Eines dieser gut sortierten Archive ist das Privatarchiv von Herrn Bernd Dankert, bei dem ich mich an dieser Stelle dafür herzlich bedanken möchte, dass ich sein Archiv für meine Recherchen nutzen kann.

Unser Fall handelt von einem Schädel-Hirn-Trauma mit offener Fraktur des Schädeldachs und man kann ihn getrost als homöopathischen "Kriminalroman" bezeichnen. In der Tat hat er von der Sache her auch mit etwas Kriminalistischem zu tun. Die medizinischen und damit auch die juristischen Realitäten haben sich geändert, so dass heute keiner von uns auf die Idee käme diesen Fall primär zum Fall für die Homöopathie zu machen. Es ist ein Fall, der heute selbstverständlich mit Blaulicht oder Rettungshubschrauber der Notfallmedizin zugewiesen würde. Dabei wäre die Prognose auch aus heutiger Sicht trotz hoch spezifischer, chirurgischer, apparativer, antiseptischer und antikonvulsiver Verfahren immer noch mehr als ungewiss. Ich möchte an dieser Stelle meine Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass die Anwendung der Homöopathie bei einer Vielzahl von Polytraumen begleitend zur kunstgerechten Notfallversorgung, Unfallchirurgie und Intensivmedizin eine Optimierung der Heilungschancen bieten würde. Es bleibt zu hoffen, dass eines Tages die Homöopathie von erfahrenen Therapeuten in den Kliniken ausgeübt werden darf, und dass sich Notfallmedizin und Homöopathie zum Wohle der Kranken unterstützen – dies aus der Erkenntnis, dass die Therapien sich synergistisch verhalten können.

Der folgende – durch seine Dramatik beeindruckende – Fall stammt aus der Allgemeinen Homöopathischen Zeitschrift des Jahres 1875 und ist im Band 91, Heft 2 auf der Seite 11 abgedruckt. Er ist versehen mit der Überschrift "Eine Kopfverletzung seltener Art" und stammt von Dr. Leopold Rössel aus Ungarn. Dieser berichtete folgendes 1:

Am 15. Juni 1859 wurde der 22-jährige Müllergeselle in der im Dorfe Felsö-Dobsza befindlichen Gaststätte abends mit einer Zimmermannsaxt verwundet, wo ich ihn nach 6 Tagen sah und folgendes fand: S. liegt in einem kleinen Zimmer mit Lehmboden auf einem breiten Strohlager, hat die heftigsten Anfälle von Krämpfen und Zuckungen, durch welche der ganze Körper in Bewegung gesetzt wird. Seine Frau sagt, er sei seit drei Tagen bewusstlos. Die Krämpfe sind bald stärker, bald schwächer, machen auch Pausen von 5 Minuten, worauf er zu schnarchen pflegt. Wie nach epileptischen Anfällen. Er behält dabei die Rechtsseitenlage ein. Er soll 100 solcher Anfälle in 24 Stunden haben. Auf meine Frage warum ich erst heute zu ihm geholt werde, sagte mir der Ortsnotar es seien zwei Gerichtsärzte da gewesen und hätten die Länge und Breite der Wunde gemessen. Sie hätten angekündigt die Tiefe der Wunde bei der Sektion zu messen. Da sie bei ihrem Befund eine tödliche Verletzung konstatiert hätten, sei es nicht nötig etwas für ihn zu tun weil er ohnehin sterben müsse.

Obwohl es sehr unbequem war den Kopf des S. auf dem Boden zu untersuchen, ließ ich ihn dennoch liegen. Ich wollte ihn erst waschen lassen um ihn dann ins Bett legen zu lassen.

S. ist mittlerer Größe, gut genährt, von brauner Farbe. Wenn wir eine Linie von der Mitte des rechten oberen Augenlides durch die Mitte der rechten Augenbraue, durch das Stirnbein schief durch die Seitenwandbeine bis zum oberen Rande der Hinterhauptschuppe ziehen und diese messen, so haben wir eine neun Zoll lange Wunde, in welcher nicht nur die Haut, der Musculus frontalis, orbicularis, palpebralis, der Corrugator supercilii, die Arteria und Nervus frontalis und supraorbitalis, die Vena diploeticae und Galea aponeurotica, sondern auch die Knochen getrennt sind, so dass ich das von der unverletzten Dura mater eingehüllte Gehirn beim Einatmen in die Höhe steigen, beim Ausatmen sich senken sah. Die breiteste Stelle der Wunde ist zwei Zoll lang. Auf meine Frage, wie es möglich sei, dass die Wunde so lang und so breit sei, da nur ein Streich geführt wurde, antwortete seine Frau: "Als er vom Wirtshause gekommen war, hat er eine gewöhnliche Zimmermannsaxt (welche drei Zoll breit sein dürfte) gebracht" erzählte sie. Er habe einen Hieb mit derselben durch den dicken Filzhut bekommen. Da sie steckengeblieben und der Täter davongelaufen war, konnte er sie nur dadurch herausnehmen, indem er mit derselben eine Bewegung nach rechts machte, worauf er ein Krachen im Kopf hörte, und so war er imstande diese herauszunehmen. Da S. keinen Augenblick ruhig lag, musste ich von jeder Untersuchung Abstand nehmen.

Die Aufgabe der Untersuchung bestand nun darin, zuerst die Krämpfe zu stillen, die als Folge der stattlichen Gehirnerschütterung anzusehen waren, dann den Gehirndruck zu beheben, durch Entfernung des geronnenen Blutes und Eiters, welche sich zwischen Gehirn und Gehirnschale angesammelt hatten und endlich die Wunde vor äußeren Schädlichkeiten zu schützen. Ich gab daher 20 Tropfen Belladonna C3 in ein Seidel 2 Wasser und halbstündlich zwei Kaffeelöffel einzugeben; die Wunde sorgfältig so lange 4-stündlich mit Wasser zu bespritzen, bis es rein herausfloss und verordnete außerdem 40 Tropfen Tinctura Arnicae in einem Seidel Wasser, worin ich einen Leinenlappen eintauchen und damit die Wunde bedecken ließ, worüber ein dreieckiges Tuch gebunden wurde. Nachdem S. gereinigt war, ließ ich ihn in einem in kaltes Wasser getauchten und ausgewundenen Leintuch mit ausgestreckten Extremitäten einwickeln und in eine wollene Decke einpacken, mit dem Bemerken, sobald die Krämpfe nachlassen, wird er ausgepackt, mit nassen in kaltes Wasser getauchten Leintüchern bis zur Abkühlung getrieben, hierauf trocken frottiert und leicht zugedeckt. Sobald sich die Krämpfe wieder einstellen, hat dasselbe wieder zu geschehen.

Am 23. Juli sah ich S. Die Einpackungen wurden immer seltener gebraucht, weil die Krämpfe sich in 4 bis 6 Stunden einstellten. Dieselbe Ordination.

Am 26. Juli sah ich S. zum dritten Male. Die Krämpfe haben ganz aufgehört. Er ist bei Bewusstsein, klagt über Kopfschmerzen, große Schwäche und Mattigkeit. Er bekommt 20 Tropfen Arnika C3 in einem Seidel Wasser, zweistündlich einen Esslöffel voll einzunehmen; ferner jeden Morgen eine Abreibung mit einem groben, in kaltes Wasser getauchten und gut ausgewundenen Bettuch, worauf er so lange mit einem trockenen Tuch frottiert wird, bis der Körper rot wird. Alle 2-3 Stunden muss er Fleischsuppe, Milch und Wasser bekommen. Zu bemerken ist noch, dass der kleine fadenförmige Puls am 23. Juli 48 Schläge in einer Minute machte, während ich den 26. Juli 70 Schläge zählte.

Am 30. Juli habe ich den vierten und letzten Besuch gemacht. Er sagte er fühle sich schwach, der Kopf sei etwas eingenommen, die Wunde tue nicht sehr weh; es zeigten sich an den Rändern Granulationen. Die Ordination blieb dieselbe. Ich sagte der armen Frau, sobald sie keine Arznei mehr habe, solle sie zu mir kommen. Am 7. August berichtete sie, ihrem Mann gehe es gut, ich möchte ihm noch einmal Arnika äußerlich geben. Fünf Wochen verstrichen ohne von ihm etwas zu hören. Da erzählte mir der bereits erwähnte Notar, dass er eine Vorladung ins hiesige Stuhlrichteramt erhalten habe, weil er von den Gerichtsärzten angeklagt worden war, ihnen nicht angezeigt zu haben, wann S. gestorben sei, da sie ihn jetzt ausgraben müssten, um den Befund abgeben zu können, welcher von den Behörden gefordert wurde um dem Täter, der sich bis jetzt in strenger Haft befunden, nach gelesenem Sektionsbefund seine Strafe zu bemessen. Da erklärte der Notar ihnen, dass S. durch mich behandelt wurde und seit drei Wochen in der Mühle arbeite. – Weil sie dieses nicht glauben wollten, begaben sie sich nach Felsö-Dobsza und als sie sich von der Wahrheit überzeugt hatten, teilten sie den Behörden mit, dass S. bisher nicht gestorben sei aber später sterben werde. Zwei Wochen später kam S. zu mir, aber nicht, um sich als geheilt vorzustellen, sondern um mir anzuzeigen, dass er zum Comitatsvorstand berufen sei, weil er ihn eben sehen wollte und um mich zu bitten, ihm ein Schreiben mitzugeben...

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