Naturheilpraxis - Ausgabe 10/2001
Kraniosakrale Behandlungstechnik
von Hartmut Fritzsche

Der Begriff Osteopathie ist aus dem Griechischen abgeleitet
(os = Knochen, pathos = Krankheit)
und bedeutet
„Krankheit durch den Knochen“.

Er soll zum Ausdruck bringen, dass jegliche Krankheit mit einer Veränderung am Bewegungsapparat einhergeht.

Grundlage der Behandlung ist die Annahme, dass jegliche Beschwerden des Menschen, groß oder klein, mit einem Bewegungsverlust im Körper verbunden ist.
Mit geschulten Händen ertastet der Osteopath kleinste Bewegungseinschränkungen und bearbeitet diese, um dem Gewebe seine uneingeschränkte Funktion wieder zu ermöglichen.

Das Gedankengebäude der Osteopathie basiert im Wesentlichen auf vier Grundsätzen.

Die vier Grundsätze der Osteopathie
1. Leben ist Bewegung
Ständige Bewegung kennzeichnet alles Lebendige. Bewegung ist Ausdruck von Lebenskraft, die sich als Funktionieren des Körpers äußert. Die Beweglichkeit bezieht sich nicht nur auf Gelenke, Muskulatur und Sehnen, sondern auch auf die freie Bewegung der inneren Organe mit der Atmung, Herzschlag, Verdauungstätigkeit sowie Blut- und Lymphzirkulation. Eine Störung der Beweglichkeit beeinträchtigt die Organfunktionen und führt zu Erkrankungen.

2. Der Körper ist eine Einheit
Gesundheit und Vitalität des Gesamtorganismus beruht auf einem harmonischen Zusammenspiel all seiner Teilbereiche. Dysfunktionen eines Organs lösen eine Kettenreaktion aus und können Irritationen anderer Organsysteme verursachen. Somit bedarf es einer Harmonisierung des Ganzen, um einen Teil des Körpers wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die psychische Verfassung und der soziale Aspekt des Menschen sind ebenso unzertrennbar mit dem Zustand seiner Gesamtverfassung verknüpft.

3. Die Autoregulation des Körpers bewirkt Heilung
„Der Körper des Menschen wurde als Apotheke Gottes geschaffen mit allen Medikamenten, die Gott in seiner Weisheit für notwendig befand, um die Menschen glücklich und gesund zu erhalten und diesen Zustand wiederherzustellen“ sagte G. W. Northup, American Osteopathic Association.
Durch Normalisierung einer primären Störung des Systems werden Autoregulationsmechanismen ausgelöst und Selbstheilungskräfte mobilisiert. Das Bestreben der osteopathischen Therapie ist, Blockierungen dieser Autoregulation zu lösen. Damit können die individuellen Ressourcen des Organismus aktiviert und die optimalen Bedingungen für den Heilungsprozess geschaffen werden.

4. Struktur und Funktion beeinflussen sich gegenseitig
Zwischen Struktur und Funktion besteht eine Wechselbeziehung. Die gesunde Struktur der Organgewebe ist die Voraussetzung für ein gutes Funktionieren. Durch die osteopathische Behandlung wird das funktionelle Gleichgewicht des Organismus wieder hergestellt. Damit wird sowohl eine heilende wie auch vorbeugende Wirkung erzielt. Eine gesunde Funktion bewahrt die Struktur vor Schäden.

Der osteopathische Weg zur Diagnose
„Die Palpation durch die Finger,
der Gedanke durch die Finger,
das Sehen durch die Finger
sind die einzigen Mittel des Osteopathen,
um die Diagnose zu stellen.“
– William Garner Sutherland –

Neben der Anamnese, der klinischen Untersuchung der Organe, der Bewegungsprüfung und neurologischen Tests ist das Palpieren Grundlage der osteopathischen Diagnostik und Behandlung. Die Hand ist mit Abstand das sensibelste Organ des Körpers. Zur Kontrolle der Hände ist im Gehirn ein größerer Bereich belegt als für den gesamten Rumpf mit Armen und Beinen zusammen! Die Wahrnehmungsfähigkeit der Hand zu schulen, ist eine wesentliche Aufgabe des Osteopathen.

Zunächst wird die Gewebsbeschaffenheit und Beweglichkeit untersucht. Temperatur, Spannung und Beweglichkeit der Haut sowie die darunter liegenden Gewebe, die Muskulatur, Bänder, Faszien, Knochen und inneren Organe werden geprüft. Durch einfühlsames, konzentriertes Wahrnehmen lässt sich die Befindlichkeit der Gewebe erspüren. Ein Krankheitsgeschehen ist immer mit Veränderungen der Gewebsqualität und Beweglichkeit verbunden. Solche Veränderungen können bereits festgestellt und behandelt werden, bevor die Störung Krankheitssymptome hervorgebracht hat. Somit ist die Osteopathie nicht nur eine behandelnde, sondern vor allem auch eine vorbeugende Heilkunde.

Das Konzept der kraniosakralen Techniken
Osteopathie befasste sich ursprünglich ausschließlich mit Beschwerden des Bewegungsapparates und deren manuelle Behandlung. Der Schädel galt damals als verknöcherte Einheit ohne eigene Beweglichkeit. Die Ausweitung der klassischen Osteopathie auf den Kopfbereich ist der Verdienst von William Garner Sutherland, ein Schüler Andrew Taylor Stills, dem Begründer der Osteopathie. Durch detaillierte anatomische Studien, Experimente am eigenen Körper und feinfühliger Palpation und Beobachtung entwickelte er sein Therapiekonzept. Er gewann Erkenntnisse über das körpereigene Regulationssystem, das für das Gleichgewicht und ein gesundes Funktionieren des Körpers verantwortlich ist. Da der Schädel (Kranium) und das Kreuzbein (Sakrum) eine Schlüsselstellung einnehmen, nannte er sein Konzept kraniosakrale Osteopathie. Neben seinem Praxisbetrieb arbeitete er in einer Kinderklinik. Durch die osteopathische Behandlung konnte er bei vielen Kindern eine erstaunliche Besserung oder eine vollständige Heilung erreichen. Der deutliche Erfolg führte zu einer raschen Verbreitung der Therapie. Trotz intensiver wissenschaftlicher Forschung kann die Wirkung jedoch nur teilweise logisch erklärt werden.

Kranialrhythmus – Puls des Lebens
Allgemein verstehen wir unter der Beweglichkeit des Körpers die Motorik des gesamten Bewegungsapparates, die Atmung, den Herzschlag, etc. Neben diesen großen, deutlich erkennbaren Bewegungen gibt es eine minimale, subtile Beweglichkeit aller Gewebe. Mit einem Rhythmus von acht bis zwölf Zyklen pro Minute streckt sich der gesamte Organismus aus und zieht sich wieder zusammen. Da diese Bewegung der Atmung im gewissen Sinn ähnlich ist, hat sie Sutherland als PRM – primary respiratory mechanism, als primären Atemmechanismus bezeichnet. In Deutschland ist der Begriff Kranialrhythmus am geläufigsten. Der Kranialrhythmus kommt im Körper in folgenden Bereichen zum Ausdruck:

1. Beweglichkeit von Gehirn und Rückenmark
Jede einzelne Nervenzelle nimmt an dem Kranialrhythmus teil, indem sie sich langsam dehnt und wieder zusammenzieht. Die Nervenzellen sind mit ihren Ausläufern mit Abstand die größten Zellen des Körpers (bis zu 1 Meter!).

Durch viele hintereinander geschaltete Zellen summieren sich die kleinen Bewegungen, so dass die Bewegungsamplitude des zentralen Nervensystems bis zu einem Zentimeter beträgt. Sehr eindrucksvoll wird dieses Phänomen von John Upledger beschrieben. Bei neurochirurgischen Operationen beobachtete er die deutliche aktive Beweglichkeit der Rückenmarkshäute, selbst unter Narkose. Da in keinem Physiologiebuch davon die Rede ist, veranlasste es ihn, dieses Phänomen näher zu erforschen. Die Spur führte ihn zu Sutherland und der Osteopathie.

2. Fließen des Liquors
Der Liquor cerebrospinalis wird in den Wandbereichen der Hirnventrikel gebildet. Das geschieht in kleinen Wellen, die sich dann über das gesamte Ventrikelsystem und entlang des Wirbelkanals bis zum Kreuzbein fortsetzen. Der pumpenden Fließbewegung des Liquors wird eine große Bedeutung beigemessen, da sie als Impulsgeber des Kranialrhythmus beschrieben wird.

3. Beweglichkeit der Schädelknochen
Die Schädelknochen galten lange Zeit als starres Gehäuse für Gehirn und Sinnesorgane. Tatsächlich ist eine Beweglichkeit im Bereich der Knochennähte vorhanden. Die Knochen selbst weisen eine gewisse Plastizität und Geschmeidigkeit auf, was am Kinderschädel noch am deutlichsten zu spüren ist. Durch sensibles Ertasten oder auch mittels feinster technischer Messmethoden kann festgestellt werden, dass sich die Kopfform mit dem Kranialrhythmus minimal verändert. Die einzelnen Knochen wirken dabei wie Zahnräder zusammen. Die zentrale Achse liegt in der Schädelbasis zwischen Keilbein und Hinterhauptsbein. Spannungen und Dysfunktionen in diesem entscheidenden Bereich beeinflussen den gesamten Organismus. Durch unmittelbare Nähe zur Hypophyse kann das Hormonsystem irritiert werden. Fehlhaltungen des Rückens mit Wirbelsäulenverkrümmung sind eine andere häufige Folge. Ist die Zentralachse der Schädelbasis durch einen Unfall oder durch extreme Kompressionen während der Geburt blockiert, ist eine allgemeine Vitalitätsminderung und Schwäche bis hin zu Entwicklungsstörungen und ausgeprägten psychischen Störungen möglich.

4. Bewegung des Kreuzbeins
Das Kreuzbein wird lateinisch Os sacrale, heiliger Knochen, genannt. Den Namen trägt es zu Recht, da es ein wesentlicher Schlüsselknochen für die gesamte Körperstatik und Motorik ist. Im Kranialrhythmus neigt es sich leicht vor und richtet sich wieder auf. Beim normalen Gehen führt das Kreuzbein eine pendelnde Achterbewegung (Lemniskate) aus. Das stimuliert und kräftigt wiederum den Kranialrhythmus.

5. Bewegung der Hirn- und Rückenmarkshäute
Das zentrale Nervensystem ist in die Hirn- und Rückenmarkshäute wie in Taschen eingebettet. Ähnlich einem Mobile, das aus der Balance gekommen ist, werden Fehlspannungen dieser Bindegewebshäute wie mit Seilzügen fortgeleitet. Diesem Membranensystem kommt eine wichtige Integrationsfunktion der verschiedenen Aspekte des kraniosakralen Systems zu. (Abb. 4)

6. Bewegung der Faszien
Die Faszien wurden bereits in ihrer Eigenschaft als Umhüllung von Organen im vorherigen Kapitel beschrieben. Über die Faszien breitet sich der Kranialrhythmus im gesamten Körper aus.

Der kraniosakrale Rhythmus dient der Diagnose und Therapie. Durch leichtem ruhigen Handkontakt tastet der Osteopath am Kopf des Patienten in welchem Bereich Spannungen und Dysfunktionen vorliegen. Mit minimalen Impulsen können einzelne Schädelknochen, aber auch innere Strukturen des Schädels behandelt und die Bewegung der Hirnflüssigkeit beeinflusst werden. Das Ziel ist, eine freie Entfaltung des Kranialrhythmus im gesamten Körper zu ermöglichen und damit die Eigenregulation und Selbstheilungskräfte anzuregen.

Erstaunlich ist, wie wenig Kraft nötig ist, um deutliche Veränderungen zu bewirken. Weniger ist mehr – der Unlogik zum Trotz. Liegt ein großes Schiff am Kai, kann ich es auch mit einem noch so kräftigen, ruckartigen Stoß nicht einen Millimeter von der Stelle bewegen. Setze ich mich aber bequem ans Ufer und stütze meine Füße auf dem Schiffsrumpf ab, wird sich das Schiff nach einer Weile wie von alleine langsam von mir wegbewegen.

Manuelle Homöopathie
Es gibt zwei Wege die zur Heilung führen. Alle Therapieverfahren lassen sich dem einen oder anderen Prinzip zuordnen.

– contraria contrarii curentur – Gegensätzliches werde mit Gegensätzlichem geheilt.
– similia similibus curentur – Gleiches werde mit Gleichem geheilt.


Ein einfaches Beispiel mag den Unterschied veranschaulichen. Bei Fieber lässt sich die Körpertemperatur durch kühlende Wadenwickel senken. Die andere Möglichkeit ist, die Temperatur durch ein heißes Fußbad noch leicht weiter zu erhöhen. Der Körper reagiert darauf mit einer Gegenregulation und senkt seine Temperatur selbst.

In der Osteopathie werden direkte und indirekte Behandlungstechniken unterschieden. Mit einer direkten Technik wird das Gekrümmte gerade gezogen, das Zusammengestauchte gedehnt, was aus der Mitte geraten ist zurückgeschoben, usw. Das heißt, das Problem des Körpers wird nach dem Prinzip der gegensätzlichen Therapie behandelt. Zu den direkten Techniken zählen z. B. die Mobilisation mit Impuls oder die Muskel Energie Technik.

Bei indirekten Techniken, wie sie bei einer kraniosakralen Behandlung eingesetzt werden, wird hingegen exakt die Fehlspannung oder Fehlstellung des betroffenen Körperbereiches eingestellt. Diese Stellung wird auch Balancepunkt genannt, da sich alle Verspannungen des Gewebes aufzuheben scheinen. Der Patient empfindet das oft als ein schwebendes Gefühl. Rhythmus, Amplitude und Qualität des Kranialrhythmus werden beobachtet. Wird die Stellung still beibehalten, ohne den Balancepunkt auch nur durch eine kleinste Bewegung zu abzulenken, ebbt der Kranialrhythmus langsam ab und kommt zum Stillstand. Dieser Ruhepunkt wird Stillpunkt genannt. Es ist ein Moment der Selbstorganisation und der Neuorientierung für den Organismus. Die Spannungen des Gewebes scheinen wegzuschmelzen. Der betroffene Körperbereich fühlt sich locker, leicht und warm an. Nach einer kurzen Pause setzt der Kranialrhythmus wieder gleichmäßig und kräftig ein.

Möglichkeiten der Osteopathie bei Säuglingen und Kindern
Die aktuelle Verfassung des Körpers und der Zustand der Gewebe wird nicht nur von äußeren Einflüssen bestimmt, sondern bereits von seiner Entwicklung im Mutterleib entscheidend geprägt. Selbst minimale Störungen können Spuren im Gewebe hinterlassen. Das letzte Schwangerschaftsdrittel und die ersten beiden Lebensjahre eines Menschen sind aus osteopathischer Sicht besonders kritische Phasen für den Organismus. Neben anderen wichtigen Entwicklungsschritten findet in dieser Zeit die Schulung und Reifung des Nervensystems statt. Die Ausformung des Schädels ist ein bedeutender Prozess für eine optimale Funktion der Sinnesorgane, eine gesunde Körperabwehr, eine freie Atmung und vieles andere mehr. Die Schädelknochen sind durch das Wachstum ständig in Bewegung. Der Schädel eines Neugeborenen hat 45 Knochen, die bis zum Erwachsenenalter zu 22 Knochen zusammenwachsen. Bis zum 2. Lebensjahr schließen sich vier Fontanellen. Diese Lücken zwischen den Schädelknochen sind zunächst durch eine Membran verschlossen. Die normale Entwicklung kann durch Verletzungen und Stöße gestört werden.

Das wichtigste Ereignis in dieser kritischen Lebensphase ist die Geburt. Während der Entbindung wirken ungeheure Kräfte auf das Kind ein. Auf diese große Bewährungsprobe ist der Organismus von Natur aus bestens vorbereitet. Das Becken der Mutter ist durch hormonellen Einfluss wesentlich elastischer und kann dem Druck des kindlichen Schädels besser nachgeben. Die Schädelnähte des Kindes sind noch flexibel und können sich übereinanderschieben, so dass der Kopf besser durch den Geburtskanal passt. Das neugeborene Kind besitzt natürliche Regulations- und Selbstheilungskräfte, die die Störungen durch den Geburtsvorgang meist schon ausgleichen können. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Atmung, das Saugen und das Schreien. Teilweise reichen die eigenen Regulationsmechanismen des Kindes jedoch nicht aus und es bleibt eine leichte Schädelasymmetrie oder ein Schiefhals zurück. Spannungen zwischen einzelnen Schädelknochen können zu Kompressionen an Durchtrittsstellen von Nerven oder Blutgefäßen führen. Typische Folgen sind Schluck- und Saugstörungen, sowie Erbrechen bei Säuglingen. Bei manchen Kindern sind die Störungen zunächst noch gut kompensiert und die Auswirkungen zeigen sich erst im Schulalter als Wirbelsäulenverkrümmung, Lern- und Konzentrationsschwäche oder Hyperaktivität.

Eine frühzeitige osteopathische Behandlung kann dazu beitragen, dass Fehlspannungen und Einschränkungen des Bewegungsapparates, der inneren Organe und des Nervensystems, die durch den Geburtsvorgang entstanden sind, vom Organismus selbst wieder aufgelöst werden und damit unangenehmen Folgen vorgebeugt wird. In USA und England wird die osteopathische Untersuchung des Neugeborenen zunehmend zum allgemeinen Routine- und Prophylaxeprogramm für Neugeborene hinzugezogen. Heute gibt es zwei rein osteopathisch arbeitende Kinderkliniken: in San Diego, Kalifornien von Viola Fryman und das Osteopathic Centre for Children in London von Stuart Korth.

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