Zeitschrift für Phytotherapie - Ausgabe 05/2000
Editorial
    Erfahrung, Phytotherapie und Immanuel Kant

    Erfahrung ist im philosophischen Denken ein Grundbegriff der Erkenntnistheorie. Die Psychologie sieht dagegen in der Erfahrung einen Sammelbegriff für die im Verlauf eines Lebens erworbenen Kenntnisse und Einsichten. Mit Erfahrungen umzugehen und sie argumentativ bei der Beurteilung der uns umgebenden Welt zu nutzen, ist damit zunächst einmal das Vorrecht von uns Älteren. Erlebnisse müssen zu Erfahrungen verarbeitet und möglicherweise über Generationen weitergegeben werden.

    Mit der Zeit kommt es zur Bildung einer Tradition. Nach Immanuel Kants Theorie der Erfahrung muss sie gleichzeitig einen konstruktiven Charakter haben. Damit beruht Erfahrung auf Wahrnehmungsurteilen, die unter Umständen verallgemeinert werden können. Allerdings kann man Erfahrungen unserer Vorfahren nicht immer auf unser eigenes Leben übertragen.
    Die am besten nutzbare Erfahrung muss man selbst »erfahren«. Und das kostet Zeit, eben Lebenszeit.

    Interessanterweise ist auch heute das seit dem 15. Jahrhundert in seiner Bedeutung nicht mehr geänderte Partizip »erfahren« mit »bewandert« und »klug« synonym. Man muss sich geistig bewegen (»wandern, fahren«) und noch dazu cupidus rerum novarum, »gierig nach Neuem« sein. Etymologen sehen den Ursprung des Begriffs »erfahren« bereits im 9. Jahrhundert. Über mittelhochdeutsch »ervarn« und althochdeutsch »irfaran«, ursprünglich mit »durchreisen« gleichsetzbar, wird dieser Ausdruck zu »ein Land kennen lernen« und in einer Erweiterung zum allgemeinen Begriff »kennen lernen«.

    Schon dieser Wortbezug macht deutlich, dass man auch ältere Erfahrungen übernehmen kann. So komme ich mir wie ein Fischer vor. Ich gehe durch meine Welt mit einem Netz, dessen Maschen die »richtige« Größe haben sollten: nicht zu klein, um nicht alles zu erfassen, aber auch nicht zu groß, um nicht alles durchzulassen. Die Maschen sollten beim Sortieren helfen. Denn zu dem, was ich fangen will, gehören eben auch Erfahrungen, eigene und solche meiner Vorgänger aus dem persönlichen und aus dem beruflich-wissenschaftlichen Umfeld. Ich versuche dann, diese Erfahrungen zu integrieren und in mein Lebensbild umzusetzen. Ich bin aber bereit, auch Erfahrungen – eigene und fremde – infrage zu stellen.

    Und hier verbindet sich der Begriff Erfahrung mit der Nutzung von Arzneipflanzen und Phytopharmaka. Erfahrungsheilkunde heißt das Schlagwort. Ist es wirklich so, dass wir ohne kritisches Hinterfragen Wirkungen von Heilpflanzen akzeptieren sollen, nur weil sie von unseren Vorfahren scheinbar erfolgreich genutzt wurden? Ist medizinische Erfahrung ein Wert in sich, der, da er über Generationen hinweg scheinbar immer wieder bestätigt wurde, nicht mehr erörtert und infrage gestellt zu werden braucht?

    Wie aussagekräftig und hilfreich zur Beurteilung der therapeutischen Nutzung von Arzneipflanzen und aus ihnen hergestellter Phytopharmaka ist die Erfahrung unserer Altvordern nun eigentlich? Wir alle wissen, es gibt eine Vielzahl von Beispielen dafür, dass klinisch abgesicherte Resultate die Erfahrungen früherer Jahrhunderte bestätigen. U.a. dienten Kamillenblüten immer schon als Spasmolytikum und Karminativum.

    Andererseits kennen wir eine Reihe von Drogen, die aufgrund neuerer und neuester Erkenntnisse ihre therapeutische Unschuld verloren haben. Dazu gehören die früher hochgelobten Huflattichblätter und Beinwellwurzeln. In ihnen hat man jedoch vor einiger Zeit die stark lebertoxischen Pyrolizidinalkaloide nachgewiesen.

    Aber selbst in Kaufhausketten abertausendmal verkaufte Phytopharmaka können deshalb nicht immer die »Erfahrung der Unbedenklichkeit« für sich in Anspruch nehmen. So zeigen nach neuesten Studien Präparate, die Hypericum-Extrakte enthalten, Wechsel-wirkungen mit anderen Pharmaka. U.a. werden die Plasmaspiegel von gleichzeitig mit Hypericum-Extrakt eingenommenem Digoxin, trizyklischen Antidepressiva oder oralen Antikoagulantien reduziert, so dass deren Wirksamkeit durch Johanniskraut vermindert werden könnte.

    Aus Erfahrung gut? Leider nicht immer. Da müsste mir sogar mein Königsberger Landsmann Immanuel Kant Recht geben.

    Franz-C. Czygan


Panorama
Kongresse, Weiterbildung                                                                                                239
Buchbesprechung                                                                                                              241
Ch. Rätsch: Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen

Industrie                                                                                                                         270

Originalarbeiten
Analytische Identifizierung von Radix Harpagophyti procumbentis
und zeyheri
B. Feistel, F. Gaedcke                                                                                                        246

Fluidextrakt aus Agropyron repens bei Harnwegsinfektionen oder Reizblase
C. Hautmann, K. Scheithe                                                                                                 252

Phytotherapie International
Arzneipflanzen und Phytotherapie in Ungarn
P. Babulka                                                                                                                           257

Aus der Apotheke
Functional Food vs. Phytotherapie
Th. Richterr                                                                                                                         264

Portrait einer Arzneipflanze
Der stechende Mäusedorn (Ruscus aculeatus L.)
I. van Rensen                                                                                            271
                                                                                   
Forum                                                                                                   265

Impressum                                                                                                                      287


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