Naturheilpraxis - Ausgabe 08/2001
Baunscheidtismus
von Werner Vogt

Zu den klassischen Verfahren der Naturheilkunde gehören die Ableitungsverfahren, bei denen die Ab1eitung über die Haut an erster Stelle stehen.
Grundlage bildet die Annahme, dass die Krankheit, genauer gesagt die krankheitsbewirkten Symptome Ausdruck der Reaktion des Körpers auf ein krankmachendes Agens sind, das durch Ableitung nach außen beseitigt werden kann.
Modell dieser Vorstellung ist seit den Tagen der Antike der Schweißausbruch bei Fiebernden, weil in seinem Gefolge vielfach das Fieber fällt und im Gefolge dieser „Krise“ Gesundung eintritt.
Die künstliche Bewirkung dieses Schweißausbruchs gehört deshalb zu den frühesten Formen der Ableitung über die Haut.
Doch weil dieses Verfahren hilft nicht überall hilft, die Fieberreaktion nicht überall eintritt, sind im Laufe der Zeit, nach dem Prinzip von „Versuch und Irrtum“ oder „Drauflosprobieren und Erfolg“; aber auch durch puren Zufall neue Verfahren der Ableitung gefunden worden.
Einem solchen Zufall verdankt der Baunscheitismus seine Entdeckung.

Er hat seinen Namen von dem, durch sein Erfolgserlebnis zum Heilpraktiker gewordenen, ehemaligen Mechaniker Karl BAUNSCHEIDT. Ihm machten seit längerer Zeit die „rheumatischen Schmerzen“ der Hand das Leben schwer; bis an einem schönen Sommerabend, an dem er bei offenen Fenster, die schmerzende Hand auf den Tisch gelegt, in seinem Wohnzimmer saß. Es war die Zeit in der die Mücken, so vor allem auch Stechmücken „tanzten“. Immer wieder ließen sich einige auf der ruhig gehaltenen Hand von Baunscheidt nieder. Immer wieder verscheuchte er sie, bis es ihm „zu dumm“ wurde. Die Mücken hatten, was sie wollten. Sie stachen Baunscheidt in die Hand. Dieser aber stellte mit Verwunderung fest, dass sein Rheumaschmerz nach der Mückenattacke schnell nachließ, und als einem aufmerksamen Beobachter konnte es ihm kaum verborgen bleiben, dass er diese heilsame Veränderung den Stechmücken verdankte. Aus den feienen Stichstellen seiner Haut quoll heller Gewebssaft hervor, und wie es schien wich die krankmachende Substanz nach außen ab. Kein Blut trat hervor und der Saft (Speichel) den die Mücken bei ihrem Stich injizierten hielt nicht nur die Stichstellen für längere Zeit offen, sondern erzeugte auch einen Reizzustand der Haut, der, wie Baunscheidt annahm, zu einer schnelleren und lebhafteren Ausscheidung des Krankheitsstoffes führte.
Die Mücken, so fand er, hatten ihm gezeigt, wie man Krankheitsstoffe auf einfache und natürliche Weise, ohne jeden Blutverlust, aus einem erkrankten Körperteil ableiten und entfernen kann. Damit war für den klugen Beobachter klar, dass man es ihnen nur nachmachen muss, um den Erfolg künstlich zu erreichen. Als Mechaniker war es für ihn nicht schwer, ein mit spitzen Nadeln und einem Federmechanismus versehenes Instrument zu schaffen, mit dem er die Mückenstiche nachahmen konnte. Um die Wirkung des Mückenspeichels zu erreichen, erfand er ein Öl von geheim gehaltener Zusammensetzung.

Die Technik ist einfach. Logischerweise müssen die zur Nadelung vorgesehenen Körperstellen mit warmem Wasser, Benzin usw. gereinigt werden. Jede Behandlung erfordert eine größere Anzahl von Stichelungen, die man im Abstand von 3 Querfingern Abstand anlegt. Bei kräftiger Konstitution macht man mehr als bei schwächlicher, im kalten Klima mehr als im warmen. Der Ort der Behandlung richtet sich nach der Krankheit. Hauptbehandlungsort ist der Rücken, an dem die klassischen Baunscheidtisten bis zu 50 Stichelungen vornehmen. An Brust, Magengegend und Bauch sind bis zu 30 Stichelungen angebracht; an Wade, Ober und Unterarm 7 –12, an den Rändern der Fußsohlen 8 – 12; hinter dem Ohr 1 – 2. Kinder unter 2 Jahren sind für die Therapie ungeeignet.

Die Tiefe der Stichelung ist bei Baunscheidts durch stärkere oder schwächere Anspannung der eingebauten Spiralfeder einstellbar. Da 1 – 2 mm die günstigste Einstichtiefe ist, ist schwächere Einstellung in der Regel besser als starke. Besonders an Stellen mit knöcherner Unterlage. Zum Beispiel über den Wirbeln und den Schulterblättern.
Bei klassischem Vorgehen beginnt man mit dem Nadeln am besten in der Lendengegend, geht direkt über dem Rückgrad nach oben, dann wieder von unten beiderseits der Wirbelsäule bis zur unteren Grenze des Schulterblattes, um dann dieser entlang bis zur Schulterhöhe und etwas um sie herum nach vorn zu nadeln.

In ähnlich systematischer Weise werden, soweit erforderlich, auch die übrigen Körpergegenden gestichelt, z.B. Kreuz, Leber-, Milz- oder Herzgegend. Stellen mit zarter Haut, nahe an den Augen, der Nase, den Gelenkbeugen, den Geschlechtsteilen usw. dürfen nicht gestichelt werden.

Die Stichelungen sind rasch nacheinander vorzunehmen. Denn dadurch verschwimmt die Schmerzempfindung bei Patienten.
Nach jeweils 5 bis 10 beieinander liegenden Stichelungen wird das Oleum Baunscheidti (s.u.) mit einem sterilen Wattebausch dünn auf die gestichelten die gestichelten Stellen aufgetragen; die behandelte Stelle mit einer keimfreien Kompresse abgedeckt und mit Heftpflaster oder einer Binde befestigt.
Die erste Reaktion ist ein Brennschmerz, der rasch in ein Wärmegefühl übergeht.
Am folgende Tag entwickeln sich kleine Pusteln, die bei größerer Stichtiefe den Charakter von kleinen Furunkeln annehmen können. Ein etwaiger Juckreiz wird mit einer einfachen Vaseline gemildert.

Vor allem darf der Patient nicht kratzen!

In Fällen bei denen der Ausschlag nicht auftritt, kann es zu Schweißausbruch, reichlich schleimigen und auffallend stinkenden Darmentleerungen, viel Urinabgang und auch neuralgischen Schmerzen kommen.
Kommt der Ausschlag nicht heraus, so werden die genadelten Stellen mit warmen Seifenwasser gewaschen und nach dem Trocknen wird ein zweites Mal Öl aufgetragen.
Eiterpusteln werden vorsichtig ausgedrückt und neu verbunden
In der Regel trocknet ein lege artis erzeugtes Pustelekzem nach 3 – 5 Tagen ein. Danach darf – ja sollte – der Patient ein warmes Bad nehmen.Bei chronischen Krankheiten, z.B. bei rheumatischen Schmerzen, spricht die Erfahrung für eine mehrfache Wiederholung der Prozedur. BAUNSCHEIDT selbst wiederholte die Kur nicht nur nach jeweils 5 oder 10 Tagen, bis das Leiden behoben war, sondern stichelte in schwereren Fällen zwei bis dreimal hintereinander.

Noch vor den zweiten Weltkrieg viel geübt, ist die von seinem „Erfinder“ 1851 unter dem Titel „Der Baunscheidtismus“ veröftentlichte „neue Heillehre“ in einer von der Arzneikunst beherrschten Zeit nahezu „von der Bildfläche“ verschwunden.

BAUNSCHEIDTs Methode fand nach seiner Veröffentlichung zunächst auch in ärztlichen Kreisen viel Beachtung – und bald auch Kritik. Nicht zuletzt, weil BAUNSCHEIDT seine „Entdeckung“ übertrieben lobte, indem er schrieb: „Bis zum Erscheinen meines Heilapparates konnte die medizinische Wissenschaft diese Krankheitstsoffe nicht ohne Lebenssäfte-Verlust aus dem Körper scheiden, weil sie bei jeder Operation mittels Schröpfköpfen u.s.w. dem Körper mehr gesundes als krankes Leben entzog.“ In einer gewissen Neutralität argumentierte z.B. der hannoveraner Arzt H. KLENCKE: Wenn BAUNSCHEIDT sein Instrument „Lebenswecker“ nennt, so ist das insofern richtig „als es es durch Reiz, Congestionen und Turgescenz die Lebensreaktion aufruft;..“ doch „ist jede Friction der Haut mit Flanell oder einer Bürste ein Lebenswecker.“ Zudem „hat die rationelle Medizin ebenfalls schon seit alten Zeiten Nadelreize angegewendet unter dem Namen Acupunctur, obgleich Baunscheidt dagegen streitet, dass sein Lebenswecker nur dasselbe sei.“

Was KLENCKE dabei „Acupunctur“ nennt, hat wahrscheinlich mit dem, was wir heute darunter verstehen, nichts zu tun, doch abgesehen davon „darf, wie KLENCKE zugeben muss, „nicht geleugnet werden, daß der Nadelreiz, verbunden mit reizender Einreibung, überhaupt Hautreiz, gegen mancherlei Krankheitsfälle, namentlich Rheumatismen, innere Congestionen, Ausschwitzungen, partielle Lähmungen, oberflächliche Drüsenschwellungen durch Ableitung und Belebung heilsam wirken kann; aber wenn da behauptet wird, daß der Baunscheidtismus ein Mittel gegen Blutentmischungskrankheiten (Dyskrasien), Fieberzuständen, Hämorrhoiodalleiden, überhaupt alle chronischen Allgemeinleiden sei, und wenn man mehr davon verheißt, als was in solchen Fällen eine spanische Fliege, Pustelsalbe oder irgend ein anderer Hautreiz auszuüben vermag, so ist das entweder Selbsttäuschung oder Charlatanerie.“ Denn, so KLENCKE, das geheimnisvolle Oel, das Baunscheidt zur Pustelbildung nimmt, „hat sich ... bei Untersuchung in einem gerichtlichen Verfahren als das billige Crotonöl erwiesen, welches die Ärzte immer schon als Reizmittel dieser Art kannten und benutzten.“

Wir begegnen allerdings in einem biologisch-medizinischen Taschenbuch von 1938 noch der Feststellung: „Als unspezifische Reizbehandlung hat das Baunscheidtverfahren, ebenso wie alle Derivantien, d.h. ableitenden Mittel, ein praktisch unbegrenztes Wirkungsfeld. Für die Anwendung kommen in Betracht die verschiedensten akuten und chronischen Entzündungen, Exsudate, Krämpfe, Schmerzen und Lähmungen. Also etwa entsprechend der Indikation von Cantharidenpflaster; nur ist das B.-Verfahren weniger beschwerlich, von nachhaltigerer Wirkung, auf größeren Stecken anwendbar.“ Besonders gute Erfolge hat das Verfahren bei gichtischen und rheumatischen Beschwerden. Vor allem in den Wechseljahren der Frau. Noch bedeutungsvoller ist jedoch die z.T. schon von QUINCKE gemachte Beobachtung, „wonach u.a. unheilbare Rückenmarks-Erkrankungen, Tabes, multiple Sklerose, Syringomyelie, Myelitis durch das Baunscheidt-Verfahren günstig zu beeinflussen sind.

Dennoch gilt der Baunscheidtismus heute weitgehend als historisch. So erklärt z.B. Dr.C.H.SCHAUENBURG 1876 in seinem „...Lehrbuch über Baunscheidt’s Lebenswecker für Laien und Ärzte“: „Meine Erfahrungen gehen dahin, daß durch die Awendung des sogenannten ‘Lebensweckers’ weder gesunden noch kranken lndividuen irgend ein Nachteil zugefügt werden kann, selbst nicht von Nichtärzten,“ da nennt „Der Gesundheits-Brockhaus“ den Baunscheidtismus eine „gefährliche Methode“ und verweist dabei auf das in BAUNSCHEIDTs Originalrezept enthaltene Crotonöl (Oleum crotoni bzw. Oleum Tiglii), das er als „eines der stärksten Karuinogene“ nennt, während es vom wohl kompetenteren „HUNIUS“ als Kokarzinogen bezeichnet wird. Auch das, als Alternative angewandte Senföl (Oleum Sinapis) ist kaum mehr zu erhalten. Eine gewisse Alternative wird erreicht, indem man die Stichstellen einfach mit Hilfe eines Wattebauschs ganz dünn mit scharfem Senf einreibt, der natürlich schon für sich selbst ein Hautreizmittel ist. Man muss aber daran denken, dass es nur noch wenige Patienten gibt, die sich in einer Zeit, in der mit „Pillen“ und Spritzen und Salben behandelt wird, der Prozedur des Baunscheidtierens unterziehen wollen.

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