Naturheilpraxis - Ausgabe 08/2001
Die Blutegeltherapie
von Kurt W. Seifert

Während eines Kongresses für Naturheilkunde in Mamaia/Rumänien musste ich feststellen, wie sehr die Blutegeltherapie in Vergessenheit geraten ist. Gleichzeitig konnte ich aber auch in mehreren Gesprächen feststellen, wie groß das Interesse an dieser Therapie ist.

Blutegel
Der Pschyrembel schreibt:
Hirudo medicinalis: Heilblutegel, gehört zur Klasse der Ringelwürmer; zwittrige Tiere mit Saug- und Haftnapf, im Saugnapf 3 Hornkiefer mit Zähnchen; Hirudin des Speichels verhindert Blutgerinnung; Eiablage in Kokongespinnsten; Aufenthalt im Wasser und in feuchter Erde. Temporäre Außenparasiten (Blutsauger) von Mensch und Tier; können nach einer Blutmahlzeit bis zu 1 Jahr hungern; aufgenommene Krankheitserreger, z. B. Typhusbakterien, können wochenlang beherbergt werden, daher Vorsicht bei Wiederverwendung.
Besondere Zuchtanstalten, z. B. Marburg/Lahn, ferner Offenbach/Main; zwecks Fieberbehandlung Versand von Malariaplasmodien- und Rückfallfieberspirochaeten-haltigen Blutegeln!
Pschyrembel Ende.

Die Entsorgung
Aus gegebenem Anlass und weil es mir am Herzen liegt, beginne ich mit der Entsorgung der Hirudines.
Der Pschyrembel schreibt:
Vorsicht bei Wiederverwendung!
Dem schließe ich mich uneingeschränkt an, auch ich bin der Meinung, dass Blutegel niemals 2x verwendet werden dürfen. Im Normalfall schließt sich das auch durch die lange Hungerperiode, nach der Nahrungsaufnahme, aus. Die Tiere würden einfach nicht beißen.
Über die Entsorgung der Blutegel nach Benutzung gibt es verschiedene Meinungen, wobei freilich stets geltende Vorschriften eingehalten werden müssen. Man hat aber vielleicht eines vergessen: Hier lässt man der Natur ihren Lauf und es wird nicht versucht über künstliche Reize, den Blutegel erneut, also vor Ablauf eines Jahres, zum Beißen zu bewegen. Der Blutegel beißt in seiner natürlichen Umgebung nicht, bevor er das gesaugte Blut verdaut und somit die Bakterien verstoffwechselt hat. Aus diesem Grunde sollte man überlegen, ob man dem Blutegel, obwohl der Aufwand natürlich größer ist, ein qualvolles Ende in Salz, Essig oder Alkohol ersparen könnte.

Blutegel und Schulmedizin
Auch die Schulmedizin hat den Blutegel wiederentdeckt.
Im Klinikum Stegliz, Berlin, werden monatlich ca. 10.000 Blutegel in Umstimmungstherapien eingesetzt.

Geschichtliches
Die Blutegeltherapie gehört zu den Umstimmungs- und Aus- bzw. Ableitungsverfahren.
Diese Therapie ist wohl so alt wie die Menschheit, bzw. die Erfahrungsheilkunde selbst. Es darf schließlich nicht vergessen werden, dass die gesamte Medizin auf der Erfahrungsheilkunde basiert.
Schriftlich wird die Blutegeltherapie zum ersten Mal im letzten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, von dem Arzt Themison von Loadica, aus Kleinasien, erwähnt.
Er beschrieb die Behandlung folgender Erkrankungen mit Blutegeln:
  • Anhaltendes Fieber (Diagnose!)
  • Entzündungen aller Art
  • Gallenkoliken
  • Halsentzündungen
  • Kopfschmerzen (auch heute noch eine Domäne dieser Therapie)
  • Nagelgeschwüre (Panaritien)
  • Pertussis (heute ungebräuchlich)
  • Regelverhaltung (Dysmenorrhoe) (dafür gibt es heute bessere Therapien, als Umstimmungstherapie jedoch durchaus einsetzbar)
  • Zahngeschwüre
Bei all diesen Erkrankungen ist ein Versuch mit der Blutegeltherapie durchaus angezeigt, obwohl es heute selbstverständlich „modernere“ Methoden gibt. Natürlicher und schonender sind diese Methoden mit Sicherheit jedoch nicht.
In der Blütezeit der Blutegeltherapie, besonders in Frankreich, wurden dem Patienten in einer Sitzung 60 – 80 Egel angesetzt. So wird heute natürlich nicht mehr vorgegangen. Vielleicht waren zur damaligen Zeit die Patienten widerstandsfähiger!?
Allerdings gab es zu jeder Zeit, in jeder Therapieform Übertreibungen.
  • Baunscheidt war der Meinung, sein Lebenswecker sei das Alleinseligmachende,
  • Stahlkopf (Nomen est Omen) hatte viele Prozesse zu führen, weil er in seiner aktivsten Zeit sogar Ausstellungstische der Mitbewerberfirmen auf Ausstellungen umkippte, weil er der Meinung war, nur seine Regenaplexe hätten eine Daseinsberechtigung, alles andere seien Scharlatanerien.
  • Ein besonderes Beispiel sind die Aderlässe. Nicht nur im Mittelalter, sondern auch noch im 20. Jahrhundert starben Tausende Patienten, weil der Aderlass exzessiv angewandt wurde. Interessant ist die Aussage eines der damaligen Heilkundigen: „Der Patient ist nicht etwa am Aderlass gestorben, der hätte ihn nach Ablassen der schlechten Säfte wieder auf die Beine gebracht! Der Patient starb, weil er kein Blut mehr hatte, das ich ablassen konnte!“
Aus dem eben Gesagten, geht klar hervor, dass nicht die Therapien falsch, schlecht oder gar gefährlich sind, sondern nur deren Anwendungsweise.

Einer der größten Verfechter der Blutegeltherapie war der französische Kliniker Broussais (1772 – 1830).
Er war es auch, der, wie bereits erwähnt, 60 – 80 Blutegel in einer Sitzung am Patienten saugen ließ.

Eindeutig Blutegelmuster, gefunden auf einer modernen Seidenkrawatte!
Der Blutegelboom ging in Frankreich so weit, dass es um 1800 sogar Kleiderstoffe mit Blutegelmuster gab. Die daraus gefertigten Kleider nannte man „Robes à la Broussais. Aus der nebenstehenden Abbildung kann man erkennen, dass sich das Muster noch bis heute gehalten hat, wenn auch niemand mehr weiß, woher es stammt.

In einem alten französischen Familiengesundheitsbuch fand ich exakte Zahlenangaben über den Blutegelverbrauch in Frankreich:
  • 1827 33,6 Mio
  • 1829 44,6 Mio
  • 1850 100,0 Mio
Wenn man bedenkt, dass diese Zahlen nur aus Frankreich stammen und man dann den Gesamtverbrauch Europas hochrechnet, wird man sich nicht wundern, das der med. Blutegel in unseren Breiten praktisch ausgestorben war.
Danach musste die Aufzucht konsequent betrieben werden, um die Bestände wieder aufzufüllen. Bei dieser Aufzucht tat sich Ungarn besonders positiv hervor. Daher kommen die meisten Blutegel aus ungarischen Zuchtanstalten.
Im 19. Jahrhundert verschwand die Blutegeltherapie dann fast in der Versenkung. Die Organpathologie Virchows, gab dieser Therapieform praktisch den Todesstoss. In Virchows Theorien passten die Blutegel einfach nicht hinein. Außerdem brach zu der Zeit auch das Zeitalter der Chemotherapie an und die „altmodischen“ Therapien der Naturheilkunde wurden zunächst weitgehend verdrängt. Dazu gehörte auch die Blutegeltherapie. Nur Außenseiter behielten die Tradition der Therapie bei und führten sie langsam wieder ein.
Besonders der deutsche Arzt Bottenberg trug mit seinen Schriften 1875 dazu bei.
Er schrieb: „Altes Heilgut muss mit dem Heilgut der neueren Erkenntnisse zum Wohle der Patienten gepaart werden. Das Brauchbare soll von dem Unbrauchbaren getrennt werden“.
Zitat Ende.
Dieses griff der Heidelberger Arzt Bäumler auf und sprach 1894 auf dem internationalen Internistenkongress in Rom, über die günstigen Einflüsse der Blutegel in der Behandlung von Thrombosebildungen.
Die große therapeutische Breite der Blutegeltherapie wurde plötzlich wieder erkannt und auch in Deutschland bekam sie wieder ihren Stellenwert, wenn auch nur am Rande der anderen bekannten Therapieformen.

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