Regulationsmedizin Ausgabe 4/1997
Ökologie der Mundhöhle
Von R.R. Lehmann
Institut für Anatomie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Zusammenfassung
Die Mundhöhle ist Grenzraum zwischen Umwelt und Organismus. Zähne, Mundschleimhaut, Mikroorganismen und Speichel bilden ein komplexes Wirkungsgefüge - das Ökosystem. Für alle natürlich entstandenen Ökosysteme gelten dieselben Grundregeln: Sie entstehen durch Selbstorganisation und besitzen die Fähigkeit zur Selbstregulation und Kompensation. Solange sich Verminderung und Zunahme, Abbau und Aufbau die Waage halten, liegt ein biologisches Gleichgewicht vor. Der Speichel hat für das Ökosystem Mundhöhle eine herausragende Bedeutung. Die meisten Funktionen des Speichels sind Schutzfunktionen. Alles was zur Verminderung der Flussrate und zur Änderung der Zusammensetzung des Speichels beiträgt, führt zu einer Schwächung des biologischen Gleichgewichtes und schließlich zu nicht mehr kompensierbaren Störungen. Medikamente und Allgemeinkrankheiten spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die ökologische Betrachtungsweise zeigt aber auch Wege auf, die für Therapie und Vorbeugung von entscheidender Bedeutung sind. Therapie bedeutet, das biologische Gleichgewicht wiederherzustellen, Vorbeugung heißt, zu verhindern, dass das biologische Gleichgewicht zusammenbricht.

Einleitung
Der Begriff Ökologie wurde im Jahre 1866 von dem deutschen Zoologen Ernst Haeckel geprägt. Er verstand darunter die Lehre vom Naturhaushalt. Ökologie leitet sich von dem griechischen Wort "oikos" für Wohnung ab. Sie befasst sich mit dem Aufbau und den Wechselbeziehungen aller belebten und unbelebten Bestandteile eines Lebensraumes. Ökologie untersucht die höchste Komplexstufe biologischer Organisation. Heute ist das Wort Ökologie ein täglich benutztes Wort. Zumindest gefühlsmäßig erkennen viele Menschen, dass die Beschäftigung mit der Ökologie etwas Nützliches ist. Die meisten Menschen bringen den Begriff Ökologie in Verbindung mit bestimmten Lebensräumen unserer Umwelt. Aber auch unsere Mundhöhle ist ein Lebensraum, der sich am besten ökologisch erschließen lässt.

Die Mundhöhle - einzigartiger Lebensraum
Unsere Mundhöhle ist ein komfortabel ausgestatteter Lebensraum, in dem es an Feuchtifkeit, Wärme und Nahrungsquellen nicht mangelt. Sie wird von durchschnittlich 170 Quadratzentimetern Schleimhaut ausgekleidet. Hinzu kommen etwa 45 Quadratzentimeter Zahnoberfläche. Beide Flächen zusammen bilden den Siedlungsraum für schätzungsweise 10 hoch 13 Mikroorganismen. Ohne Haftung und Koloniebildung können Mikroorganismen auf der Oberfläche der Schleimhaut und Zähne nicht überlegen. Sie werden mit dem Speichel, der bis zu 1,5l täglich unsere Mundhöhle durchspült, verschluckt. Da sich die Deckschicht der Mundschleimhaut durchschnittlich alle 8-10 Tage erneuert, verschwinden auch hier immer wieder die "alten Siedler" mit den abgestoßenen Zellen. IN der Schleimhaut patrouillieren ständig Zellen des Immunsystems. An erster Stelle stehen die antigenpräsentierenden Zellen, von denen 400 Stück pro Quadrat mm anzutreffen sind. Antigenpräsentierende Zellen sind Makrophagen (Fresszellen), die beispielsweise ein Bakterium, das in die Schleimhaut eingedrungen ist, abfangen, phagozytieren und verdauen. Allerdings wird das Bakterium nicht vollständig verdaut. Bestimmte Glykoproteine, die für dieses Bakterium spezifisch sind, bleiben unverdaut und werden auf der Oberfläche des Makrophagen präsentiert. Diese so vorgezeigten Bakterienproteine werden von Lymphozyten erkannt und wirken damit als Auslöser für die Aktivierung des körpereigenen Abwehrsystems (Immunsystem). Zähne, Mundschleimhaut, Mikroorganismen und Speichel bilden ein komplexes Wirkungsgefüge - das Ökosystem beeinflussen sich alle beteiligten Komponenten und sind gleichzeitig voneinander abhängig. Solange sich Verminderung und Zunahme, Abbau und Aufbau die Waage halten, liegt ein biologisches Gleichgewicht vor. Das bedeutet, dass die orale Gesundheit solange garantiert ist, wie Partnerschaft und Harmonie zwischen den einzelnen Komponenten nicht nachhaltig gestört sind.

Ökologische Grundregeln
Für alle natürlich entstandenen Ökosysteme gelten dieselben Grundregeln. Sie sind keine Erfindung des Menschen, sondern des Ergebnis der Evolution, die einen Zeitraum umfasst, der Jahrmillionen zählt.

Erste ökologische Grundregel:
Das biologische Gleichgewicht entsteht durch Selbstorganisation
Die Eigenschaften aller beteiligten Komponenten bilden die Voraussetzung für eine komplexe Organisationsform. Sie entsteht durch Selbstorganisation des Ökosystems und führt zur Einstellung eines Gleichgewichtes zwischen Vermehrung der Mikroorganismen und Begrenzung ihres Wachstums, zwischen Verlust von Zellen des Schleimhautepithels und ihrem Nachwachsen sowie zwischen De- und Remineralisation.

Zweite ökologische Grundregel:
Ökosysteme besitzen die Fähigkeit zur Selbstregulation
Die Menge und Zusammensetzung des Speichels, die Wachstumsrate der Mikroorganismen, die Abstoßung und Teilungsrate der Epithelzellen der Schleimhaut, das Ausmaß der DE- und Remineralisation der Zahnschmelzoberfläche sind nicht auf feste Wert4e eingestellt, sondern innerhalb größerer Bereich regelbar. Die Fähigkeit zur Selbstregulation bedeutet gleichzeitig Selbstkontrolle für das Ökosystem. Speichelfaktoren kontrollieren die Vermehrungsrate der Mikroorganismen, die Bakterienkolonien selbst kontrollieren das Wachstum der Nachbarkolonie und Puffersubstanzen, Mineralstoffe und Spurenelemente kontrollieren das Wechselspiel zwischen De- und Remineralisation der Schmelzoberfläche.

Dritte ökologische Grundregel:
Ökosysteme besitzen die Fähigkeit zur Kompensation
Ökosysteme sind grundsätzlich offene Systeme und so zugänglich für Störungen vielfältiger Art. Ökosysteme sind aber von Natur aus so ausgestattet, dass störende Einflüsse unterschiedlicher Herkunft kompensiert werden können. Eine alltägliche Störung ist die Nahrungsaufnahme. Ob diese Störung jedoch tatsächlich zu einer Beeinträchtigung der oralen Gesundheit führt, hängt sowohl von der Art der zugeführten Nahrung als auch von dem Kompensationsvermögen des Ökosystems ab. Fähigkeit zur Kompensation bedeutet, dass Ökosysteme belastbar sind. Erst wenn die Belastung so groß wird, dass die Fähigkeit zur Kompensation erschöpft ist, bricht das ökologische Gleichgewicht zusammen. Erst dann wird die orale Gesundheit nachhaltig beeinträchtigt.
Zwischen Selbstorganisation, Selbstregulation und Kompensation besteht ein untrennbarer räumlicher und funktioneller Zusammenhang. Das daraus resultierende biologische Gleichgewicht stellt sich bei den meisten Menschen von selbst ein. Es ist individuell geprägt.

Speichel - wichtigster ökologischer Faktor
Der Speichel hat für das Ökosystem Mundhöhle eine herausragende Bedeutung. Die meisten Funktionen des Speichels sind Schutzfunktionen. Voraussetzung dafür ist die vielseitige Zusammensetzung des Speichels und ein ausreichender Speichelfluss. Der Mineralstoffgehalt des Speichels ist Voraussetzung für die zeitlebens an der Schmelzoberfläche ablaufenden Remineralisationsprozesse. Bakterizide und fungizide Stoffe sowie Immunglobuline sorgen für eine Begrenzung des Wachstums der Mikroorganismen. Muzine oder Glykoproteine schützen die orale Schleimhaut vor Austrocknung, Verletzung und vor dem Eindringen irritierender und mancher kanzerogener Stoffe. Die Pufferwirkung ist von wesentlicher Bedeutung zur Neutralisation von Säuren. Außerdem enthält er Speichel Stoffe, welche die Wundheilung beschleunigen.
Die Beurteilung des Speichels erfordert eine differenzierte Betrachtung unter Berücksichtigung des Gesamtruhespeichels und stimulierten Speichels, der Flussrate und Zusammensetzung des Speichels, des Lebensalters und geschlechtsspezifischer Unterschiede sowie von Allgemeinkrankheiten und Medikamenten. Während sich die Flussrate des Gesamtruhespeichels über die Lebensdekaden hinweg vermindert, ist das beim stimulierten Speichel nicht der Fall.

Vollständiger Text siehe RegulationsMedizin 2, Heft 4 (1997)

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